Vor Jahren…
Diese Ecke war gut. Trocken und nicht zugig. Das Mädchen kauerte sich noch etwas mehr hinein und zog die Beine an ihr Kinn. Außerdem war diese Ecke schön dunkel und abgelegen. Man würde sie ganz sicher nicht finden wenn heute die….die Tür zu dem heruntergekommenen Schlafsaal in dem Kinderheim öffnete sich und das zehnjährige Mädchen konnte unter dem Bett, neben dem sie in ihrer Ecke kauerte, schwach erleuchtete Stiefel erblicken. Kurz darauf schlurften auch Frauenschuhe hinterher.
“Sind das alle Mädchen?” tönte die Männerstimme in einem tiefen Bariton, die eindeutig eher gewohnt war Befehle zu erteilen.
“Natürlich, wertester Herr. Würd mich doch nie traun was für Euch zu versteckn, Herr.” umschmeichelte die Leiteren des Hauses, oder wie man es auch immer nennen wollte, direkt den edlen Herren plump.
Hylea drückte sich direkt noch mehr an die Außenwand. Hinter der Wand auf den Straßen herrschte dieser Tage regens Treiben, denn das Sonnenfest stand an und jeder war damit beschäftigt Vorbereitungen zu treffen. Nun ja, fast jeder. In diesem Haus war es ein Tag wie jeder andere, der von harter Arbeit und dünner Suppe geprägt war. Es war einige Augenblicke still, dann gingen die Stiefel festen Schrittes weiter in das Zimmer hinein. Das Mädchen hörte wie die anderen Kinder Platz machten, sie selber schlang die dürren Ärmchen um ihre Knie, in der Hoffnung, dass es sie vielleicht unsichtbar machen würde. Sie hatte viel gehört, was mit Mädchen ihres Alters passieren würde wenn sie “abgeholt” wurden. Immer weiter kamen die Stiefel in das Zimmer und damit in das Sichtfeld des Mädchens. Sie vergrub den Kopf in der Mulde zwischen Körper und Knien. Sicher würde man sie nicht sehen wenn sie niemanden sah.
“Hrm.” Immer lauter wurden die Schritte, dann verstummten sie. Das Mädchen zitterte und traute sich nicht den Kopf zu bewegen. “Ich nehm diese.”
“Aber wertester Herr die is nix für nen Herrn wie Euch. Die is stumm und dumm. Schaut Euch besser weiter um, ne.”
“Ich nehme diese!” Die Stimme polterte durch den Raum.
“Aber…wie Ihr meint, Herr. Aber sacht nich ich hab Euch nich gewarnt, nech.”
Das dünne Ärmchen von dem Mädchen wurde von den wulstigen Fingern der Leiterin gepackt und sie wurde nach oben in einen wackligen Stand gezerrt. Sie traute sich immer noch nicht zu schauen, sondern presste die Augen zu.
“Schau mich an, Mädchen.” Sie hielt die Augen geschlossen.
“Tu was der Herr sacht, Drecksding.”
Das Mädchen öffnete langsam die Augen und starrte auf die Stiefelspitzen des Herren. Edle Stiefelspitzen, die glänzten, so poliert war das feine Leder. Einen Augenblick später zuckte sie zusammen als kräftige Männerhände sie an ihrem Kinn packen und das Gesicht anhoben, so dass sie dem Mann unweigerlich ins Gesicht schauen mussten. Ein Gesicht, welches sie nie wieder vergessen sollte. Ein Gesicht, in dessen Abziehbild sie noch heute so oft sah, wenn ihr Kinn nach oben geruckt wurde.
“Hrm. Doch. Ich nehme diese. Hab keine Angst, Mädchen.”
*Suppenschüssel hochhalt und mit drolligen Hundeaugen anguck*
“Was hinter einem Lächeln steht,
mag nur jener zu deuten,
welcher das Lächeln zu schenken gedenkt”